VIERZEHNTES KAPITEL

MAGIE
wie wir wunderbarerweise ein Herz, einen Bogen und zwei Schafe fanden

Seit wir Samdavjun verlassen hatten, ging die Sonne um vierten Mal unter. Heute war nicht mein Tag. Nach der Sache am Barbarenbrunnen hatte sich Shandri freudig in die Stellung eines stellvertetenden Kommandeurs zurückgezogen und beschlossen, er habe so etwas wie Urlaub. An seiner Stelle mußte ich alles regeln und wurde bei jeder Kleinigkeit um Anordnungen und Befehle gefragt.

Diesen Morgen hatte ich sogar einen Streit zu schlichten müssen, denn jeder Einzelne wollte heute unbedingt zur Vorhut gehören, um mit der ersten Gruppe den unzuverlässigen Brunnen zu erreichen und nachzusehen, ob er Wasser führe.
Jetzt gab mir Raffaela den Rest. Die Gruppe der Menschen und der Halbelf hatten den schönen Gnomennamen Rafi, den ihr der alte Kukri gegeben hatte, auf das Schlimmste verhunzt. Ich glaube, der kindliche Fontes war der Erste, der daraus ein Raffi gemacht hatte, und zwar eines mit drei f. Dem Holzkopf von Barbaren hatte das gefallen und dem Holzköpfchen Raffaela auch und selbst Donisl hatte milde gelächelt und bemerkt, dieser neue Name träfe feinsinnig ihren schönen Charakter. Nun hing also Raffaela an meinem Steigbügel und sang fröhlich zum wer weiß wievielten Male das Lied von dem Soldaten im Weinfaß, und zwar den vollständigen Text, den ihr Trent d'Arby gestern am Lagerfeuer beigebracht hatte.
In Donisl's Augen war ihr Verkaufswert sicherlich gesunken.Seit Beginn des Wüstenritts mit der Diät von Dörrfleisch, Tee und Hirse hatte sie ihren Babyspeck verloren. Sie hatte unter Martinas Anleitung das Bogenschießen geübt und dabei vier von ihren Pfeilen zerbrochen. Mit Fontes hatte sie Steine geworfen und ihn gestern Abend zur Freude aller Beteiligten im Weitspucken geschlagen. Wenn der unzuverlässige Brunnen genug Wasser führte, erwog ich, sie zu ertränken. In meinem Alter gibt es eine Grenze dessen, was man an jugendlichem Elan etragen kann.
Jetzt kam uns unsere Vorhut entgegen. Unter meinem eisigen Blick trafen die Gnome den weisen Entschluß, nicht mir sondern ausnahmsweise Shandri zu melden, daß weit und breit keine Menschenseele zu sehen sei, und der Unzuverlässige Brunnen sei vollständig trocken.
Shandri war aber immer noch im Urlaub und sah mich erwartungs- voll an.
"Der Hexer zu mir!" brüllte ich. Donisl trabte unschuldig herbei. "Wenn wir heute verdursten, ist es Deine Schuld. Du wirst sie mit ins Grab nehmen".
Donisl erwiderte unerschrocken: "Wir werden nicht verdursten. Wir werden sogar baden können, wenn Du es wünschst, Onkelchen".
"Ich will, daß die Pferde bis zum Bauch im Wasser stehen", schrie ich zurück. "Und ich werde keine Hand rühren, um Dir zu helfen".
"Onkel Gregor", sagte Donisl, "der Himmel verhüte, daß Du uns in dieser Stimmung zu helfen versuchst".
Er stieg ab und ging mit Martina zum Felsen, aus dem gelegentlich eine Quelle sprudeln sollte. Die Kalkspuren des Wassers setzten etwa in der Mitte des Steins über dem Boden an. Der Sand vor dem Felsen war in einem Halbkreis von etwa zwei Mannslängen glattgespült. Ein Haufen vertrockneter Büsche stand auf der linken Seite, allerdings ein gutes Stück höher als die Ausspülung. Die Senke selbst war herzförmig von Gestein umgeben. Die Spitze des Herzens zeigte gegen den Quellfelsen.
Martina hockte sich an den Rand der Ausspülung und legte die Handflächen auf den Boden. Sie rief die Erdmutter an, das Wasser steigen zu lassen, bis es die Quellöffnung erreiche.
Donisl ging mit abgezählten Schritten vor dem Felsen hin und her und ließ durch seine Finger Sand in den Sand gleiten.
Dann zog er einen Dolch heraus und stieß ihn gegen den Felsen. Die Erde bebte schwach und Raffaele ergriff erschrocken meine Hand und hielt sie fest. Doch es kam kein Wasser. Donisl begann von neuem mit seiner Beschwörung. Er lieh sich von einem der Gnome einen kurzen Speer aus und stieß erneut gegen den Stein. Die Erde bebte diesmal nur ganz unmerklich.
Raffaela fragte leise, warum Donisl mit Waffen gegen den Stein stoße. Ich erklärte ihr, daß Wenige, was ich von dieser Art Magie wüßte wäre, daß der Teil des Zaubers das Wasser rufe, der andere Teil müsse aber dem Wasser den Weg öffnen, so daß es frei laufen könne. Es käme ganz auf die Eigenheit der Umgebung an, so daß der Zauber von Ort zu Ort verschieden ausgeführt werdenmüsse.
Donisl probiere eben, welches Gerät am besten geeignet sei. Nach einigen Versuchen werde er sicherlich Erfolg haben.
Raffaela drehte sich im Kreis herum und betrachtete die uns umgebende Landschaft. "Die Senke sieht aus wie ein Herz. Ein Herz ist aber kein Gerät, wie soll er mit einem Herzen an den Felsen stoßen".
"Nun", flüsterte ich zurück, während Donisl den Speer umdrehte und jetzt mit dem Holz gegen den Stein schlug. "Manchmal liegen die Geheimnisse der Magie eben tiefer, oder vielleicht sind sie hier so offensichtlich, daß man sie übersieht. Oder es ist nur ein Teil des Ganzen dargestellt, oder nur ein flüchtiger Zustand".
Raffaela sah sich um. "Das Herz könnte auch der Umriß des gespannten Bogens und der Sehne sein", sagte sie, "das wäre ein nur flüchtiger Zustand. Der Zustand, bevor sich die Spannung löst".
"Donisl wird bestimmt auch einen Bogen ausprobieren", erwiderte ich leise. "Es ist nur eine Frage der Zeit".
Raffaela nahm entschlossen den schwarzen Bogen von ihrem Sattel, lief nach vorne und hielt ihn Donisl hin. Ohne seine Beschwörung zu unterbrechen, nahm Donisl den Bogen und reichte Raffaela den Wurfspeer. Er ließ wieder Sand durch seine Finger gleiten und stieß dann plötzlich mit dem Bogen gegen den Stein. Es sah fast so aus, als verschwände der Bogen bis zur Hälfte im Fels und diesmal zitterte die Erde.
Donisl sprang zurück und zog Martina hoch. Aus dem Boden erklang ein leises Grollen und dann sprudelte klares Wasser aus dem Felsen. Donisl führte Martina ein Stück weiter und wehrte die Glückwünsche und das begeisterte Schulterklopfen der Gnome ab. Es sei doch Martina aus ihrem eigenen Volk gewesen, die die Erdmutter gerufen habe. Er gab der sprachlosen Raffaela den Bogen zurück und sagte, indem er sie seltsam anblickte: "Du hast gesehen, was jeder hätte sehen können, der es wagt, bei Tag die Augen zu öffnen. Ich habe es nicht gesehen".
Doch dann fand er schnell zu seinem alten Selbst zurück und fragte mich keck, ob ich ausprobieren wolle, ob das Wasser vor dem Felsen meinem Pferd bis zu dem Bauch reiche oder nur zu den Fesseln. Baden könnte ich aber sicherlich, alle anderen würden dann wegschauen. Ich brummte irgendetwas Grobes zurück und befahl abzusatteln und zuerst die Pferde zu tränken. Und wer sei eigentlich jetzt auf Wache? Ich sehe doch das Gesicht jedes einzelnen Galgenvogels aus der Truppe hier. Shandri bequemte sich gerade so lange aus seiner Ferienstimmung heraus zu kommen, um die Wache einzuteilen, und bald schlugen die Flammen des Lagerfeuers hoch.
Raffaela fragte Donisl, wie lange der Brunnen noch fließen würde, und Donisl antwortete, nur einige Tage. Er bleibe unverändert unzuverlässig. Aber nur gut, daß jetzt jeder wisse, es sei der Bogen, der das Wasser befreie. Nur wie er die Leute so kenne, sei das zum Weitererzählen zu einfach. Die Geschichte würde so berichtet werden, daß man erst das Messer nehmen müsse, dann den Speer mit der Spitze und dann mit dem Schaft, oder sei es gerade umgekehrt gewesen? Erst den Speer und dann den Dolch? Schon nach zwei oder drei Wochen gebe es eine nutzlose Verwirrung und man würde sicherlich hinzufügen, man brauche zur Durchführung des Zauberspruchs zwei Jungfrauen, oder zumindestens ein schwarzes und ein weißes Schaf.
Gerade dieser Hang der Kundschaft zum Märchenhaften mache die Magie so einträglich. Und da wir gerade von Geld redeten, Raffaela solle doch ordentlich zugreifen und noch ein Stück Fleisch nehmen, sonst würde sich ihr Vater beschweren, sie sei zu mager geworden, und würde versuchen, die Belohnung zu drucken.


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(c) 1993 Holger Provos