SIEBTES KAPITEL

das dieser goldgierigen Bande eine Gelegenheit zu selbstloser Bewährung bietet.

Am nächsten Morgen war Fontes wieder als erster auf den Beinen. Er riet Raffaela, kräftig mit den Füßen zu stampfen und die Arme umeinander zu schlagen, um so die Steifheit der Nacht aus den Gliedern zu treiben. Er kündigte an, der Weg werde nun bald leichter, so daß er eigentlich der Meinung sei, unsere Dörrfleischration brauche nicht ganz so groß auszufallen wie gestern. Der Barbar erwiderte, er könne sich nicht daran erinnern, gestern überhaupt etwas gegessen zu haben, und schon stritten sich die beiden eifrig. Loger ließ den Hafersack auf Donisls Stiefel fallen und mußte sich einiges anhören.
Alle waren in bester Aufbruchsstimmung.
Zunächst war der Weg aber mühselig. Die Farbe des Gesteins wurde heller und der Untergrund wieder bröckelig und rutschig. Für ein kurzes Stück mußten wir absitzen und die Pferde führen. Dann ging das Geröll allmählich in festen Sand über, durchsetzt mit großen rötlichen Brocken. Wir konnten wieder aufsitzen. Die Brocken wuchsen höher und höher aus dem Sand, und gegen Mittag wurde es schwer, dem Weg genau zu folgen, weil die Steinklötze die Sicht einschränkten. Loger allerdings gefiel die Landschaft ausnehmend gut. Er wies Trent d'Arby immer wieder auf diese oder jene gute Gelegenheit zu einem Hinterhalt hin, und die beiden ergingen sich in kleinen taktischen Planspielen. Als wir dann aber zum zweiten mal das Gefühl hatten, vom Weg abgekommen zu sein, versuchte Fontes, das Adlerpaar herunterzuwinken, das seit einiger Zeit wieder über uns kreiste. Jeder sah entweder gespannt nach oben oder schmunzelnd auf den Mönch.
Da kam der Ras über uns. Ein furchtbares Gebrüll brach sich an den Felsen, und ein großer gelber Schatten stürzte herab. Der Ras hatte sich Loger als Opfer erkoren. Logers Stute knickte zusammen. Durch eine dicke Staubwolke sah ich, wie Loger sich in einer instinktiven Reaktion aus dem Sattel warf und gegen einen Felsen schlug.
Raffaela schrie. Der Hammer sprang in meine Hand. Loger hockte am Fuß der Wand und hielt den Ärmeldolch vor sich. Eine klägliche Waffe. Der Hammer flog und streifte den Ras an der Hinterhand. Er warf sich aufbrüllend herum. Loger warf den Dolch. Der Hammer kehrte in hohem Bogen in meine Hand zurück. Der zweite Wurf würde besser gezielt sein. Der Hammer zischte los. Er traf den Ras in der Mitte des gewaltigen Schädels. Jetzt gallopierte der Barbar heran. Er hatte die Zügel fallen gelassen und schwang sein Schwert mit beiden Händen hoch über den Kopf. Er beugte sich zur Seite, und die Klinge pfiff in einem glitzernden Bogen herunter, durch die Nackenwirbel des Ras bis tief in den Hals. Blut spritzte. Der König der Wüste brach zusammen. Der Staub legte sich, und Raffaela weinte. Trent d'Arby sprang vom Pferd.
"Wir haben den Ras getötet! Wir haben den Herrscher der Wüste bezwungen! Wir haben gesiegt!"
Loger taumelte heran. Sein Lederharnisch war heruntergerissen. Das Kettenhemd war zerfetzt und durch sein Unterkleid tropfte Blut. Er zog seinen Dolch aus der Flanke des Tieres.
"Wahrhaftig, wir haben den Ras besiegt! Fontes wird ein Lied daraus machen, und es wird sich an den Lagerfeuern verbreiten".
Fontes schüttelte den Kopf. "Deine Stute ist tot, und der König der Wüste ist erschlagen. Wie traurig". Trent d'Arby lachte. "Dieses schöne Gefühl verstehst Du nicht, Mönchlein. Wir sind die Sieger, die Sieger! Raffaela, komm her und versorge den verwundeten Helden".
Er zog Loger die Reste des Lederkollers vom Körper und half ihm aus dem zerrissenen Kettenhemd.
"Onkel hat gesagt, es muß locker sitzen, und er hatte recht", grinste Loger. "Mal sehn, ob mein Fell auch locker sitzt".
Donisl opferte ein weiteres Taschentuch, damit eine zitternde Raffaela die Wunden des Diebs säubern konnte. "Komm her, Bruder Fontes", rief Donisl, "und tue Deine Pflicht. Es werden nur vier hübsche feine Narben über der Heldenbrust bleiben, gerade so viel, um bei den Damen Eindruck zu machen".
Fontes senkte den Kopf, faßte seine Gebetskette fester und sprach. Loger biß die Zähne zusammen, und die Wunden schlossen sich langsam, bis nur vier leichte rote Striemen übrig blieben.
"Beweg Dich in den nächsten Tagen nicht zu heftig", sagte Fontes. Dann ging er, die tote Stute des Diebes abzusatteln. "Aber dabei kannst Du mir schon helfen".
Der Kadaver der Stute wurde von den zwei Maultieren hinter einen Felsen gezogen. Für den Körper des Ras brauchten wir die Maultiere und den Hengst des Barbaren. Obwohl wir mitzogen, war es eine harte Arbeit.
"Schade, daß wir das Fell nicht mitnehmen können", meinte Trent.
"Es wäre eine Zierde für jede Burg".
"Nimm wenigstens die Trophäen", sagte ich. "Du wirst sie allerdings mit jemandem teilen müssen. Es hat mich schon gewundert, daß der Ras so langsam war". Mit diesen Worten zog ich mit einem Ruck einen abgebrochenen Speer aus der Schulter des Ras. Es war eine kurze vierkantige Spitze mit langem eisernen Schaft. Der Schaft war mit eingelegtem Silberdraht verziert, eine gute Gnomenarbeit.
"Ach was", sagte Trent, sah sich die Speerspitze an und warf sie in den Sand. "Der Ras war noch ganz munter. Ich glaube nicht, daß jemand zum Teilen übrig geblieben ist".
Dann brach er dem Ras die Reißzähne aus dem Maul. Die oberen waren, selbst mit seiner Hand gemessen, spannenlang, die unteren noch mehr als fingerlang. Er wickelte die Zähne in ein Tuch und steckte sie in seinen Gürtel.
Dann sattelten wir unser zweites Maultier mit Logers Sattel, verteilten seine Last gleichmäßig auf unsere Tiere und ritten weiter. Raffaela war sichtlich bestrebt, den blutigen Ort schnell hinter sich zu lassen. Auch die Unterhaltung des Diebes und des Barbaren, die jede Einzelheit immer wieder durchsprachen, schien sie anzuwidern. So schloß sie zu Fontes auf, und die beiden ritten stumm voran.
Am späten Nachmittag begann Fontes, sich aufmerksam in der Landschaft umzusehen. Wir müßten jetzt den nächsten Brunnen erreichen, einen künstlich gegrabenen mit einem Holzdeckel versehenen Bau, der von einem großen roten Felsen mit helleren Streifen markiert werde. Aber einen solchen Felsen könne er nicht finden.
Dann schrie er plötzlich ergrimmt auf: "Eine Illusion, eine niederträchtige Illusion! Welcher verdorbene Geist legt in der Wüste eine Illusion vor einen Brunnen, und solch eine schlechte dazu?"
Er stieß dem Maultier die Fersen in die Seite, ritt ein Stück nach vorne, und die Illusion brach zusammen. Vor uns ragte ein roter gelbgestreifter Felsen empor. Auf dem Weg lag der Kadaver eines kleinen gerüsteten Pferdes. Die Kopfplatte war zerdrückt und der Kettenumhang zerrissen.
Trent drängte sich an die Spitze. Sein Zweihänder glänzte in der Abendsonne. Am abgedeckten Brunnen lag der blutübersudelte Körper eines Gnoms. Fontes sprang ab und beugte sich über den kleinen Mann.
"Er atmet noch, aber er stirbt".
Donisl hockte sich neben den Mönch und tastete den Mann mit zarten Fingern ab. Der Helm hatte der Pranke des Ras zwar widerstanden, aber die Kiefer waren zerfetzt und gebrochen. Die Brustplatte hatte auch standgehalten, darunter lag aber bis zur Hüfte eine furchtbare Wunde, auf der das Blut bereits trocknete.
"Wir wollen beten", sagte Fontes, "und seiner Seele helfen, sich von diesem zerschundenen Körper zu lösen". Donisl stand auf und ging langsam auf und ab.
"Ich habe es noch nie versucht, aber es ist nicht unmöglich, wenn jeder sein Bestes gibt. Ich habe einen Spruch zur Heilung schwerster Wunden. Aber er wird Stunden dauern, und während des Spruchs wird er aufwachen. Dann wird der Schmerz ihn töten. Wenn aber jeder von uns mutig genug ist, können wir die Schmerzen aus seinem Körper ableiten".
"Wir werden alle unser Bestes geben", sagte ich ernst.
"Fangt an, Magier!"
Donisl sah Fontes an. "Du hast deinen Spruch heute schon einmal gesprochen. Wie oft kannst Du ihn noch wiederholen?"
"So oft ich will", sagte Fontes stolz.
"Das weiß ich selbst, kleiner Idiot", schrie der Magier. "Wie oft kannst Du ihn wiederholen, ohne daß Du selbst verreckst?"
"Ohne große Gefahr noch zweimal, mit zunehmender Gefahr dreimal, vom sechsten mal an werde ich immer das eigene Leben einsetzen".
"Dann nimm seinen Kopf und sprich, wenn ich anfange. Ich will nur, daß er frei atmen kann. Aber sprich höchstens viermal. Wenn es dann nicht geschafft ist, war es vergebens".

Fontes setzte sich und nahm den Kopf des Gnoms in den Schoß. Mit vorsichtigem Griff band er den Helm ab. Der Magier entkleidete seinen Oberkörper und hockte sich vor den Mann. Er entwand der starren verdrehten Hand den gebrochenen Speerschaft und nahm beide Hände des Gnoms in die seinen.
"Raffaela, tritt hinter mich und fasse meine Schultern", sagte Donisl mit sanfter Stimme. "Sei tapfer, solange Du es ertragen kannst".
Dann begannen Mönch und Magier zu sprechen. Der Mann fing sogleich an, sichtbar und rasselnd zu atmen. Raffaela trat der Schweiß auf die Stirn, Tränen rannen aus ihren Augen. Nach etwa zehn Minuten begann Raffaela zu wimmern, und kurz darauf ließ sie los. Der Körper des Gnoms bäumte sich auf. Loger sprang hinzu und faßte die nackten Schultern des Magiers. Seine Hände krampften sich zusammen. Der Magier sang. Ich sah, wie der gebrochene Kiefer des Gnomen an seinen Platz rückte, und die gebleckten Zähne wurden wieder von den Lippen bedeckt. Das Rasseln des Atems ging in ein gleichmäßiges Keuchen über. Als Logers Wunden aufbrachen und er zur Seite knickte, schrie der Mann kurz auf. Der Barbar schlug seine Hände in den Rücken des Magiers und stand wie ein Fels. Ich sah, wie sich der ausgerenkte Arm des Gnomen wieder einrenkte, und wie das Blut der Bauchwunde wieder zu fließen begann. Aus dem Mundwinkel des Barbaren tropfte plötzlich rosa Schaum. Seine Hände drückten so fest zu, daß sich die Schultern des Magiers bläulich färbten. Fontes Gesicht war nicht mehr rosigbraun sondern kalkweiß. Aber seine Lippen formten weiter. Der Gesang des Magiers wurde lauter und lauter, und Trent d'Arby wankte. Als er wegsackte, hinterließen seine Finger dunkle Striemen auf Donisls Rücken. Der Verwundete schrie gellend. Ich griff die nackten Schultern, und mich durchrann flüssiges Feuer. Meine Eingeweide brannten. Der Schmerz wogte wie ein gewaltiges Meer hoch, und die Welt brach zusammen. Ich sah vor mir prasselnde Flammen und hörte jemanden schreien. Ein gewaltiges Brausen erfüllte meine Ohren, und vor meinen Augen floß Lava die Seiten der Felsen herunter.
Erst nach einiger Zeit drang die Stimme des Mönchs zu mir durch.
"Du kannst loslassen, Onkel Gregor", sagte Fontes' müde Stimme.
"Was wir tun konnten, haben wir getan. Und ich glaube, wir haben es geschafft".
Raffaela und Loger stützten mich. Donisl hockte auf dem Sand und versuchte, sich mit zitternden Fingern eine Decke über die Schultern zu ziehen. Mit halbgeschlossenen Augen lächelte er Fontes an.
"Wie oft hast Du gesprochen, Fontes?"
"Viermal, so wie Du es angeordnet hast", antwortete der Mönch.
"Ich dachte schon, ich hätte Deinen Spruch sechsmal gehört", kam es schwach zurück. "Das war tapfer, aber dumm. Immer die Risiken abwägen".
Dann fielen die Augen des Magiers zu.

Ich konnte jetzt ohne die Hilfe der anderen stehen. Mein Körper war schwer, aber mein Geist leicht und frei. Ich ging zu dem Gnom. Sein Gesicht war wiederhergestellt und hatte angenehme Züge. Seine Augen waren geöffnet.
"Ich danke Euch allen für Eure Hilfe", sagte er mit klarer Stimme.
"Ich wußte nicht, daß es in diesen schlimmen Zeiten noch Leute gibt, die an die Gemeinschaft der Rassen glauben".
Schon war Fontes heran.
"Er darf noch nichts essen", schimpfte er grundlos, "und in den nächsten zwei, drei Stunden auch nichts trinken".
"Ja, Bruder Fontes", sagte ich ruhig, "erregt Euch nicht. Wir werden Eure Anweisungen genau befolgen. Aber macht es Euch jetzt selbst bequem und eßt etwas". Fontes wickelte sich in seine Decken, nahm einen Kanten Brot und kaute. Dann fiel das Brot aus seinen Fingern. Ich schob seine Hand unter die Decken. Ich sah nach, ob Donisl und Raffaela es bequem hatten, und der Barbar schickte Loger los, die Pferde einzusammeln. Die beiden sattelten ab und fütterten und tränkten die Tiere. Loger wollte sich an der Nachtwache beteiligen, aber Trent wies ihn an, noch einmal nach dem Magier zu sehen und dann selbst zu schlafen.
So wachten der Barbar und ich abwechselnd bei dem ruhig atmenden Gnom und sahen die Sterne über uns ihre Bahn ziehen. Nach drei Stunden flößten wir dem Mann etwas Tee ein, den er gierig trank, dann aber sofort wieder einschlief.
"Friede zwischen den Rassen ist ein Traum", sagte Trent d'Arby irgendwann einmal während der Nacht. "Selbst wir Menschen töten uns gegenseitig mit Freuden, und ich lebe davon, mein Schwert an den zu verkaufen, der am besten zahlt".
Wir gaben dem Gnom noch einmal zu trinken, und die Nacht verging.


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(c) 1993 Holger Provos